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Was ist Bildung?

In Kürze gesagt: 

Im Prozess der Bildung gestaltet die Person ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen, zu ihrer Mitwelt und zu Sachthemen.


... und ausführlicher (Prof. Dr. Peter Bieri):

"Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.

 

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 PLATON (Glyptothek München / Foto: W. Sch.)

Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man nimmt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt. Sie kann in ganz verschiedene Richtungen gehen: hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die phantastische Komplexität eines menschlichen Organismus: zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte. Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist. Bildung in diesem Sinne ist Weltorientierung.
Gebildet zu sein, heißt auch, sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen und wie weit sie reichen: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Wie verlässlich sind die Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über sie hinausgehen? Was sind gute Argumente, was ist trügerische Sophisterei? Welche Formen des Verstehens gibt es, und was sind ihre typischen Hindernisse? Es geht darum, zwischen bloß rhetorischen Fassaden und echten Gedanken zu unterscheiden. Zwei Fragen sind leitend: „Was genau heißt das?“, und: „Woher wissen wir, dass es so ist?“ Was uns diese Fragen geben, ist gedankliche Selbständigkeit. Sie definiert Bildung im Sinne von Aufklärung.
Zu Bildung gehört Einsicht in die historische Zufälligkeit der Art, wie wir denken, fühlen, reden und leben: Es hätte alles auch anders kommen können. Dieses Bewusstsein drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und von dem naiven und arroganten Gedanken abzurücken, die eigene Lebensform sei den anderen überlegen und einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung.
Eine Kultur zu verstehen, heißt, sich mit den Vorstellungen von moralischer Integrität auszukennen, die dort herrschen. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir lernen sie im Elternhaus, auf der Straße, durch die Filme und Bücher, die uns prägen. Zuerst setzen wir sie absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozess besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde und in anderen Gesellschaften über Gut und Böse anders denkt und empfindet; dass auch unserer moralischen Identität historische Zufälligkeit anhaftet. Bildung bricht mit der Vorstellung der Absolutheit und ist deshalb subversiv und gefährlich, was Weltanschauung und Ideologie angeht. Man könnte vielleicht sagen: Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden.
Wenn ich in diesem Sinne gebildet bin, habe ich eine bestimmte Art von Neugierde: wissen zu wollen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Sprache, Gegend und Zeit, auch in einem anderen Klima aufzuwachsen; wie es wäre, in einem anderen Beruf, einer anderen sozialen Schicht zu Hause zu sein. Ich habe das Bedürfnis zu reisen und dadurch meine inneren Grenzen zu erweitern. Bildung macht süchtig nach Dokumentarfilmen.
Das führt zu derjenigen Definition von Bildung, die mir die liebste ist: Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.
Gebildete Menschen sind Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“, fragte Alfred Andersch mit Blick auf Heinrich Himmler, aufgewachsen in humanistisch fein gebildetem Bürgertum. Die Antwort ist: Er schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung bedeuten kann, die handlungswirksam wird.
Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders, kann differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.
Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein begriffliches Repertoire größer geworden ist, nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.
Das hat zur Folge, dass auch seine Beziehungen zu den Anderen differenzierter und reicher werden. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, die wir Einfühlungsvermögen nennen. Sie ist ein Gradmesser für Bildung: Je gebildeter jemand ist, desto besser kann er sich ausmalen, wie es wäre, in der Lage Anderer zu sein, und dadurch vermag er, ihr Leid zu erkennen. Bildung macht präzise soziale Phantasie möglich, und in dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit.
Ausbildung ist stets an einem Nutzen orientiert: Man erwirbt ein Know-how, um etwas machen, etwas erreichen zu können. Mit Bildung ist es anders: Zwar bringt sie Fähigkeiten mit sich, und einige von ihnen sind auch nützlich. Aber das ist nicht das Entscheidende. Bildung, wie sie hier verstanden wird, ist ein zweckfreier Wert, ein Wert in sich. Es wäre falsch zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu werden, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Und natürlich ist es auch nicht so, dass es ohne Bildung kein Glück gibt; das zu behaupten wäre eine Anmaßung gegenüber denjenigen, für die Bildung unerreichbar bleibt. Aber es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs engste mit Facetten der Bildung verknüpft sind, wie ich sie besprochen habe: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abzuschütteln; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; die Faszination durch einen Film, der zeigt, wie es anderswo ist, ein menschliches Leben zu führen; die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen; die überraschende Erfahrung, dass sich mit dem Anwachsen der sozialen Phantasie der eigene innere Radius vergrößert.
Und Bildung schließt noch eine andere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, die wir Kultur nennen.
Weltorientierung, Aufklärung, Toleranz durch Einsicht in kulturelle Zufälligkeit, Lesen als innere Veränderung, soziale Phantasie als Bollwerk gegen Grausamkeit, das Glück gesteigerter Gegenwart: Es geht um viel. In letzter Zeit ist oft von Bildung die Rede. In Wirklichkeit wird von Ausbildung gesprochen. Wir sollten uns gegen diese Begriffsverwirrung und ihre gesellschaftlichen Folgen zur Wehr setzen. Denn wie gesagt: Es geht um viel."

 
Quelle: ZEITmagazin Leben, Nr. 32 / 2007, S. 26 f.

 
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